2023: Ordnung | Unordnung
Die bisherigen Untersuchungen des LOEWE-Scherpunkts “Architekturen des Ordnens” haben gezeigt, dass räumliches Wissen ein Verständnis unserer Welt und eine Möglichkeit, sie zu ordnen, eröffnet – eine Möglichkeit, die im Bereich der Architektur in besonderem Maße mobilisiert wird. Voraussetzung dafür ist das ständige Beobachten von Unordnung(en): Von Unordnung zur Ordnung wird etwas analysiert und bearbeitet, bis das Gefühl entsteht, die Zusammenhänge erfasst zu haben. Wir finden neue Logiken, wo wir sie vorher nicht gesehen haben, nehmen neue Muster in einer scheinbar ungeordneten Welt wahr. In ebenso vielen Fällen beobachten wir jedoch Prozesse, in welchen sich Zustände von Ordnung zu solchen der Unordnung entwickeln. Ausgehend von dieser Dialektik zwischen Ordnung und Unordnung zielt das Jahresthema 2023 darauf ab, die Entwicklung des Begriffs der Ordnung als unmittelbare Abhängigkeit von Unordnung mit ihren Veränderungen und Unstimmigkeiten im Laufe der Zeit zu untersuchen. Innerhalb dieses großen Rahmens sollen zwei Themenbereiche besonders in den Blick genommen werden: Die Neubewertung des Konzepts der Ruine als Zeugnis der Lebenszyklen städtischer Ordnungen und, mit Blick auf die architektonische Praxis, die Dynamik von Ordnung und Unordnung im Computational Design.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich zahlreiche Forschungs- und Entwurfsarbeiten der unerbittlichen Identifizierung von urbanen und architektonischen Ordnungsmustern gewidmet. Unser erster Fokus liegt daher auf der Beobachtung von urbanen Konfrontationszonen, in welchen stark regulierte Planung auf unordentliche, spontane, zerstörerische oder widerständische Entwicklungen trifft. Insbesondere die Ruine als Zeugin von physischer Zerstörung und Verfall ist ein Beispiel für die sich verändernden Vorstellungen von Ordnung im öffentlichen Raum. Damit deuten Ruinen auch stets auf soziale Ordnungen, die durch paradigmatische Veränderungen wie Kriege, Kämpfe um (oder gegen) Rechte oder Regierungswechsel zirkulären Ordnungswechseln unterlegen sind. Ruinen zeigen somit einen Moment und einen Ort an, an dem kein relevantes Symbol der Ordnung mehr besteht. Andererseits laden Ruinen auch zur Verwendung von Spolien ein, Zeugnisse der Wiedereingliederung alter Elemente in eine neue Ordnung. Davon ausgehend möchten wir fragen: Was erkennen wir als gültige Kriterien für Ordnung | Unordnung zu einer bestimmten Zeit an? Wie können wir der Veralterung von Gestaltungsmodellen Rechnung tragen? Wo liegen die Potenziale der Auseinandersetzung mit unordentlichen, spontanen, zerstörten oder widerständigen Umgebungen? Wie hat (und kann) sich die architektonische Praxis physischer Zerstörung aus einer Perspektive von Care und Kreativität anstatt der Rekonstruktion nähern?
Solche Spekulationen deuten auf die Existenz alternativer Ordnungsformen gegenüber denen hin, die wir gewohnt sind. Das führt uns zu unserem zweiten Schwerpunkt: Von der Quantenphysik bis zu den Neurowissenschaften war die Erforschung scheinbarer Unordnung in den letzten Jahrzehnten die Quelle für neue Programmierungsmodelle. Die Architektur bildet hier keine Ausnahme, denn seit den 1960er Jahren spielt die Programmierung durch Computer eine immer größere Rolle bei der Konzeption von Entwurfsmodellen. Zufällige und statistische Variationen spielen eine Schlüsselrolle beim Rückgriff auf computergestützte Entwurfswerkzeuge. Dabei wird die Frage aufgeworfen, wann zunehmende Komplexität mit Unordnung gleichzusetzen ist oder ob es unter dem Paradigma der computergestützten Generierung und Analyse von Formen so etwas wie Chaos geben kann. Wir sehen es daher als notwendig an, die Dynamiken zwischen Ordnung und Unordnung, die in der Berechnung und Programmierung von Chaos entstehen, zu untersuchen. Die Befragung solcher Dynamiken von Ordnung | Unordnung ermöglicht auch danach zu fragen, ob – und wenn ja, warum – sich manche Dinge dem Ordnen widersetzen, und wie die Konfrontation mit diesem Widerstand aussieht. Die neuesten Techniken, die in der künstlichen Intelligenz entwickelt wurden, zielen darauf ab, unsere Fähigkeiten zur Erkennung von Mustern in Sphären absoluter Unordnung durch den Rückgriff auf maschinelles Lernen zu verbessern. Besonders die Beobachtung von Naturphänomenen stellt eine Inspirationsquelle für die Entwicklung vieler Ordnungsmodelle und damit auch von Werkzeugen für die architektonische Gestaltung dar. Wir möchten daher fragen: Wie kann eine solche neuartige Wahrnehmung zu neuen und komplexeren Ordnungen in der architektonischen Entwurfspraxis führen, die beispielsweise auch besser auf die umweltpolitischen Herausforderungen unserer Gesellschaft abgestimmt sind? Kann eine Konfrontation mit natürlichen Ordnungsmodellen aber auch Ressourcen, wie z. B. Biomaterialien, die Akzeptanz eines potenziellen Widerstands gegen die anthropozentrische Ordnung zur Folge haben?
2020: Architektur als Metapher
Sowohl in unserem allgemeinen Sprachgebrauch aber auch in verschiedensten professionellen Kontexten, greifen wir vielfach auf architektonische Metaphern zurück. Jedoch registrieren wir diesen Bezug wenn überhaupt nur beiläufig, wenn wir etwa über Softwarearchitekten, Gedankengebäude, Stützen der Gesellschaft und Gehirnarchitektur sprechen oder die Fassade erwähnen, die eine Person vor sich herträgt. Andersherum sind Metaphern vielfach in der Architektur und Urbanistik vorzufinden, wo sie für die Entwicklung von Entwurfskonzepten herangezogen, gleichzeitig aber auch als ein nützliches Medium angesehen werden, um die Besonderheiten von Entwürfen zu kommunizieren, diskutieren oder evaluieren. Beispiele reichen von kristallinen Gebäuden bis zum Gewebe einer Stadt, umfassen aber auch die bekannte Beschreibung Le Corbusiers von Häusern als ‚Wohnmaschinen.’
Der Schwerpunkt folgt keinem engen Metaphernverständnis im linguistischen Sinn. Der Fokus liegt vielmehr auf der Erkundung von Metaphern als produktive Mediatoren in Prozessen des Wissenstransfers zwischen architektonischen und alltäglichen Wissensbeständen aber auch zwischen Architektur und anderen professionellen Diskursen mit dem Ziel, einen Beitrag zu einer breiter angelegten Untersuchung von Architektur als kultureller Ordnungspraxis zu leisten.
Wir sehen Metaphern als eine Zugangsmöglichkeit die Bedeutung von Architektur in gesellschaftlichen Ordnungsprozessen näher zu beleuchten und folgen dabei der Grundannahme, dass Metaphern in epistemologische Denk- und Produktionsprozesse eingreifen. Metaphern konstituieren sich durch die Inkongruenz eines Begriffes zu der gängigen Terminologie des Kontextes, in dem er gebraucht wird. Sie spannen so einen Raum kontinuierlicher Re-Interpretation auf. Der Sinn einer Metapher oszilliert damit zwischen dem Wissensbestand aus dem eine Metapher entstammt und dem, in welchem sie genutzt wird. Uns interessiert dabei nicht nur die Beziehung zwischen verschiedenen Wissensbereichen und -formen, die Metaphern herzustellen vermögen und wie sich diese in Bezug auf Architektur darstellen. Indem sie Wissensbestände aus einem Bereich in einen anderen einführen, können auch die mit diesem Wissen verbundenen gesellschaftlichen oder disziplinären Hierarchien, Normen und Protokolle übertragen und verfestigt werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welcher Art und Weise Architektur als Ordnungspraxis in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und disziplinären Strukturen, Ordnungen und Wissensbeständen steht.
Das erste Projektjahr endete mit der interdisziplinären Konferenz „Architektur_Metapher“, die am 5-7 November 2020 stattgefunden hat.
2021: Gebaute Ordnung
Unser alltägliches Leben wird in nicht unerheblichem Maße von der architektonischen Konfiguration des uns umgebenden Raums beeinflusst. Hierbei handelt es sich jedoch nur selten um das Produkt zufälliger und nicht intendierter Umstände. So müssen sich Architekt_innen, die sich mit der baulichen Gestaltung von Regierungs- und Behördengebäuden, städtischen Räumen, Bibliotheken oder anderen Formen des Gebauten auseinandersetzen, seit jeher nicht nur nach ästhetischen, sondern gleichermaßen nach funktionalen Anforderungen und Bedürfnissen richten, die an die von ihnen entworfenen Bauten und Architekturen gestellt werden. Resultat sind sich architektonisch manifestierende Räume, die unter anderem politisch-soziale Ordnungen und Idealvorstellungen widerspiegeln und konstituieren sollen oder in Hinblick auf spezifische Formen der Machtausübung und Machtsicherung gestaltet werden.
Der LOEWE-Schwerpunkt „Architekturen des Ordnens: Praktiken und Diskurse zwischen Entwerfen und Wissen“ wird sich im Rahmen des Jahresthemas 2021 „Gebaute Ordnung“ in der ersten Jahreshälfte mit verschiedenen Räumen der Macht auseinandersetzen und nach der Wechselbeziehung von architektonischen und räumlichen mit politischen und sozialen Ordnungen sowie kulturellen Praktiken fragen.
Den Ausgangspunkt für die thematische Ausrichtung der zweiten Jahreshälfte „Speicher des Wissens“ bildet die Feststellung, dass Architektur Wissen räumlich konfiguriert und damit wesentlichen Anteil an der Modulierung, Durchsetzung, Kanonisierung und Institutionalisierung epistemischer Modelle hat. Archive, Bibliotheken, Museen und Universitäten können als materialisierte Wissensordnungen aufgefasst werden: das gesammelte, ausgewählte, geordnete, erschlossene und vermittelte Wissen wird räumlich gefasst. Untersucht werden soll, inwiefern die konkrete architektonische Rahmung auf Organisations- oder Wissensstrukturen zurückwirkt.
Den aufgezeigten Themenkomplexen wollen wir uns im Jahr 2021 in unterschiedlichen Veranstaltungsformaten nähern – diese umfassen Vorträge, Podiumsdiskussionen und Workshops – und werden dabei historische und theoretische Perspektiven wie auch solche aus der archivalischen und baulichen Praxis einbeziehen.
2022: Ordnung Entwerfen
Das Jahresthema widmet sich dem architektonischen Entwurfsprozess in seiner zeitgenössischen Relevanz und historischen Vielgestaltigkeit, wobei sowohl die ihn strukturierenden Ordnungskonzepte als auch die durch ihn hergestellten neuen Vorstellungen von Ordnung im Zentrum des Interesses stehen. Das architektonische Entwerfen wird dabei als ein von Erfahrungen und Werten, von praktischen, technischen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen geprägter Prozess verstanden. Jeder Entwurf imaginiert Zukunft und stellt einen Versuch dar, eine neue räumliche – und damit zumeist auch soziale – Ordnung hervorzubringen. Dieser projektive Zugriff auf noch Unbekanntes und Ungedachtes basiert stets auf planerischen Konventionen, baulichen Standards, rechtlichen Vorgaben und etablierten architektonischen, urbanistischen und gesellschaftlichen Vorstellungen, die im Entwurfsprozess zueinander ins Verhältnis gesetzt, überdacht und dynamisiert werden. In welcher Weise strukturiert nun das Entwerfen die Interaktion dieser verschiedenen und heterogenen Faktoren? Welche Rolle spielen die ökonomischen und politischen Bedingungen bzw. Normen und welche die Werkzeuge oder Medien des Entwerfens? Und schließlich: Inwieweit kommt dem architektonischen Entwurfsprozess eine Schlüsselfunktion für die Analyse gesellschaftlicher Ordnungspraktiken zu?
Die zunehmende Digitalisierung und die sich mit ihr vollziehenden technologischen Neuerungen haben in den letzten Jahrzehnten zu weitreichenden Transformationen architektonischer Entwurfsprozesse beigetragen. Krisen wie die globale Pandemie oder die Klimakrise verändern aktuell das Zusammenleben und den Umgang mit (räumlichen) Ressourcen; ob und – wenn ja – wie sie zu einem neuen architektonischen Denken und Entwerfen anregen, wird zu klären sein.
Das Jahresthema für 2022 „Ordnung Entwerfen“ ist in zwei Themenschwerpunkte gegliedert und wird von einer vertiefenden Ringvorlesung mit Gesprächsrunden sowie einem Workshop begleitet. Während sich das erste Halbjahr der Frage widmet „Wie kommt Ordnung in den Entwurfsprozess?”, nimmt das zweite Halbjahr das Wechselverhältnis von Entwurfs-prozessen und ihren spezifischen Entwurfsgegenständen in den Blick.